Gizeh, nahe Kairo
Bei der Sphinx:
Ein zorniges Grollen, das mehr nach dem Brüllen eines Raubtieres als nach einem menschlichen Laut klang, entwich Frozes Kehle bei Lykahns Worten und als dieser sich von ihm abwandt, riss er ihn brutal herum und ehe einer der umstehenden einschreiten konnte, schnellte seine Faust nach vorne und verpasste dem Werwolf einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte und dessen Wucht ihn stürzen ließ. Wut, Rage und Ungezügeltheit blitzten aus Frozes glühenden Augen und einen Moment sah er so aus, als sei es für ihn damit noch nicht getan. Grasson der eigentlich verwirrt nach Willow hatte sehen wollen, als diese sich derart schlagartig in einem unbeholfenen Rückzug versucht hatte, wollte schon dazwischen gehen, doch dann machte Froze von selbst einen Schritt zurück und ließ die Fäuste sinken. Sowohl Gabrielle als auch Christine warf er dankbare Blicke zu. "Sie hat Recht", sagte er dann kühl in Lykahns Richtung und wies dabei auf die Daywalkerin, "du und deinesgleichen, ihr habt nichts unternommen und jetzt willst du uns in Sippenhaft nehmen. Und auch in der aktuellen Krise ist es nicht anders, ihr versteckt euch und denkt, dass man das alles vielleicht aussitzen kann oder dergleichen. Sag mir, Werwolf ... was hat dein Schöpfer getan, um diese Welt zu retten, außer ein englisches Kloster zu vernichten?"
***
Im Innern des einstigen Chephren-Taltempels
Entgegen Jareths Erwartungen war es nicht Fawzia, die ihm einen Besuch abstattete. Das Klicken und Klackern des Perlenvorhangs erklang, als ein zarter, moccafarbener Arm die einzelnen Ketten beiseite schob und Lis'byla hereintrat. Ihr Erscheinen war durchaus eine Überraschung, sie war die Seherin der Kaste und genoss unter den Übrigen, wenngleich es offiziell keine Hierarchie in der Gruppe gab, ein Ansehen und einen Status, der selbst den Sevors übertraf. Lis'byla war eine eher kleine Frau, doch ihre selbstbewusste, in vielerlei Hinsicht mysteriöse Ausstrahlung verlieh ihr dennoch eine einnehmende Präsenz. Sie war mittleren Alters, doch noch immer makellos und wohlproportioniert, kurvenreich eben dort, wo es einer Frau stand. Obwohl sie ihre Haut zu dunkel für die einer Ägypterin war, kleidete sie sich in altägyptischer Tradition, was bedeutete, dass ihr Busen lediglich durch ein Perlennetz bedeckt war, während das weiße, von Kleid aus leichtem Leinen erst darunter ansetzte, abgesehen von einem einseitigen Schulterträger. Ihr schwarzbraunes Haar war lockig und bis auf einzelne fein geflochtene Strähnen offen, darüber trug sie ein goldenes Kopfband aus einzelnen, miteinander verbunden Plättchen. In die vorderste, die mittig auf der Stirn saß, war ein stilisiertes, hieroglyphisches Auge eingeprägt.
Sie lächelte, drang aber nach dem ersten Schritt durch den Perlenvorhang nicht weiter in seine Unterkunft ein. Er hatte dieses einnehmende und zugleich so undurchsichtige Lächeln bereits zweimal geschenkt bekommen: zum einen als er ihr das erste Mal begegnet und vorgestellt worden war, zum anderen einmal als er bemerkt hatte, dass sie ihn beobachtete, während er seinerseits gerade einmal wieder scheinbar wie zufällig in Hörweite einer Unterhaltung verweilt hatte. Ansonsten hatte er bisher mit ihr kaum zu tun gehabt, doch Lis'bylas Anwesenheit war ohnehin sehr regellos und manchmal war sie tagelang nicht zu finden, ohne dass jemand wusste, wo sie sich aufhielt.
"Hallo Jareth", begrüßte sie ihn nun mit ihrer warmen, für eine Frau recht tiefen aber samtigen Stimme. "Ich hoffe du kommst inzwischen einigermaßen zurecht, in dieser fremden Umgebung?" Sie wartete einen Augenblick, um der Pointiertheit der folgenden Worte willen, und setzte dann hinzu: "In dieser fremden Welt gar?"
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