Am 2. Oktober 1950, in einer Zeit, in der es angesichts der herrschenden Nachkriegseuphorie in Amerika gesellschaftlich geradezu verpönt war, unglücklich zu sein, führte ein 27-jähriger Zeichner aus Minnesota namens Charles M. Schulz auf den Comic-Seiten der Zeitungen eine Gruppe von Kindern ein, die einander die Wahrheit sagten:
"Ich fühle mich irgendwie deprimiert", bemerkte in einem frühen Strip ein mondgesichtiger Junge namens Charlie Brown einem herrischen Mädchen namens Lucy gegenüber. "Was kann ich dagegen tun?" Lucys Rat: "Komm drüber weg."
Das war etwas völlig Neues in den Comic-Strips der Zeitungen. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Comics dominiert von Action und Abenteuer, Vaudeville und Melodrama, Slapstick und Gags. Schulz hingegen porträtierte die wahren Gefühle jener Zeit, indem er es wagte, seine eigenen Schrullen zu thematisieren: Gefühle der Ausgrenzung, Unsicherheit und Minderwertigkeit, die ihn sein ganzes Leben begleiteten. Mit sparsamem, aber gekonnten Strich, dem Timing eines Jack Benny und feinsinnigem Humor ging er Tabu-Themen wie Glauben, Intoleranz, Depression und Verzweiflung an. Seine Charaktere waren grüblerisch, sie sprachen eine einfache, aber nachdrückliche Sprache.
...
Als Charlie Brown das erste Mal eingestand: "Ich fühle mich nicht so, wie ich mich fühlen sollte", sprach er damit unzähligen Menschen in Eisenhowers Amerika aus der Seele ...
Die
Peanuts-Charaktere unterhielten sich in allgemein verständlicher Sprache und hinterfragten dabei gleichermaßen den Sinn des Lebens, angetrieben von dem Gefühl, dass etwas falsch läuft. Das grausame Verhalten von Kindern untereinander war eines von Schulz' ersten offenkundigen Themen. ... Aber anstatt sich auf den Schlagabtausch kindlicher Gemeinheiten zu beschränken, verwendete der Zeichner auf brillante Weise das Motiv des Glücks - das warme, angenehme Gefühl einer geborgenen Jugend - als Deckmantel für die Verkehrtheit der Dinge.
Die
Peanuts schilderten authentische Gefühle von Schmerz und Verlust, und trotzdem, wie der Zeichner Art Spiegelman feststellte, "blieb das Gefühl der Geborgenheit". Indem er erwachsene Gedanken mit einer Welt kleiner Kinder zusammenbrachte, erinnert uns Schulz daran, dass Wunden aus der Kindheit zwar Bestand haben mögen, man als Erwachsener jedoch die Fähigkeit hat, sie mit Humor zu heilen. Wenn wir über die täglichen Probleme eines Haufens komisch aussehender Kinder lachen können und in ihren Sorgen unser erwachsenes Leben wiedererkennen, sind wir in der Lage, uns zu befreien. Diese Alchemie war der Zauber in Schulz' Arbeit ...
Heute ... fällt es schwer, sich in Erinnerung zu rufen, dass vor langer Zeit einmal Schulz' Strip der Ausgangspunkt eines kulturellen Erdbebens gewesen ist. Garry Trudeau, der Schöpfer von
Doonesbury, der als Comic-Zeichner unter Schulz' Einfluss aufgewachsen war, empfand die
Peanuts als den "ersten Beat-Strip". Nervös, unvorhersehbar, seiner Zeit voraus; die
Peanuts "vibrierten geradezu, so stark war die Entfremdung der 50er-Jahre zu spüren", erinnert sich Trudeau. "Alles daran war anders."
...
Seine Figuren erbrachten den täglichen Beweis, dass wir bei näherer Betrachtung alle ein wenig sonderbar, etwas einsam und vor allem verloren sind in einer einsamen Welt; und dass es unsere alltägliche Prüfung ist, uns dessen bewusst zu sein und damit zu leben.
...
Charlie Brown setzt sich im trauten Heim zur Entspannung ans Radio und lauscht dem aalglatten Sprecher, der verkündet: "Und was wäre wohl wundervoller als das fröhliche, herrliche Lachen kleiner Kinder?" Charlie Brown steht auf, fletscht die Zähne und tritt das Radio kurzerhand aus dem Zimmer. Hier war auf einmal ein Comic-Held, der anders als seine Vorgänger Li'l Abner, Dick Tracy, Joe Palooka oder Little Orphan Annie die unterdrückte Wut der 50er aufgreifen konnte und sie in einen Vorboten des Aktivismus der 60er-Jahre verwandelte.
...
Es gibt im Jahr 1954 wohl mehrere Momente, an denen die
Peanuts endgültig zu den
Peanuts wurden, aber nirgends so deutlich wie am Montag, dem 1. Februar: Charlie Brown besucht Shermy. Er beobachtet verloren, wie dieser lächelnd, offensichtlich ohne sich Charlie Browns Anwesenheit bewusst zu sein, mit einer Spielzeug-Eisenbahn spielt, deren Gleise und Weichen und Kreuzungen so gewaltig und raumgreifend das Wohnzimmer von Shermys Familie füllen, dass die vollständigen Dimensionen des Schienennetzes nicht in einem einzelnen Bild gezeigt werden können. Charlie Brown zieht sich den Mantel wieder an und geht nach Hause. In seinem eigenen Zimmer sitzt er dann vor
seiner Eisenbahn: ein einzelner, geschlossener Kreis, nicht größer als ein Gullydeckel.
Doch da sind keine Wut, kein Selbstmitleid, keine Tränen - keine Punchline - nur stilles Dulden. Das war der Augenblick, in dem Charlie Brown ein nationales Symbol wurde, der Jedermann, der die Widrigkeiten des Daseins übersteht, indem er schlicht weiterlebt.
Lesezeichen