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Thema: "Jenseits der Zeit" - Inhalt und Zeichnungen

  1. #1
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    "Jenseits der Zeit" - Inhalt und Zeichnungen

    Hier geht es nicht um das Format von "Jenseits der Zeit", sondern ausschließlich um den Inhalt. Ich habe deshalb aus den Zitaten alles herausgekürzt, was sich nicht auf die Geschichte bezieht.

    Zitat Zitat von deif
    Es gibt viele Comic-Alben, die mich provozieren, solche, die mich gleichgültig lassen und andere, die mich bestens unterhalten. Nur sehr selten kommt es aber vor, dass mich ein Comic-Band berührt, ergreift oder sowas... "Jenseits der Zeit" hat das geschafft.

    Ich muss sagen: Ich bin hell begeistert (...). Und der Preis dürfte sich wohl auszahlen, wage ich zu behaupten...

    Kann sich diesem Eindruck sonst noch jemand anschliessen?
    Zitat Zitat von Clint Barton
    Hier!
    Wunderbares Comic - mMn eine der besten dt. Veröffentlichungen seit langem und die Beste seit "Der Alltägliche Kampf" Bd. 1.

    Der Band lädt herrlich zum träumen und schwelgen ein, vereint Harmonie und Melancholie perfekt und hat ganz starke Zeichnungen. Danke @ Carlsen für dieses Meisterwerk.
    Zitat Zitat von Matbs
    Superschöner Band, mit das Beste, was dieses Jahr auf Deutsch rausgekommen ist. (...)
    Zitat Zitat von cubbie
    Ich habe den Band gestern in die Hand genommen, mal drin geblättert und mich dann spontan zum Kauf entschlossen, da mir die Zeichnungen gut gefallen haben.

    Sicher ist der Preis am oberen Limit (...), aber der erste Eindruck war sehr gut und auch beim zweiten Blättern (zum lesen komme ich noch) muss ich sagen: Wirklich schön gemacht und das Geld wert. (...)
    Zitat Zitat von TigerRider
    ...so, ich hab's gelesen. Habe lange nach einem passenden Wort gesucht, welches meine Empfindungen beim Lesen ausdrücken kann:

    AUFWÜHLEND

    Im positiven Sinne.
    (...)
    Das Werk: Atemberaubend, 9. Kunst pur
    (...)
    Jens
    Zitat Zitat von Briareos
    (...) diejenigen, die aufgrund von Äußerlichkeiten auf einen Kauf verzichten, verdanken Ihrer Borniertheit eine prächtige Genußlücke. (...)
    Zitat Zitat von cubbie
    (...) Also ich habe das gute Stück in Ruhe durchgelesen und fasse zusammen:

    Tolle Geschichte, absolut lesenswert, entwickelt sich sehr schön.

    Toll gezeichnet (...)

    Fazit: Wieder 2 Namen (Georges Abolin , Olivier Pont) mehr auf meiner Liste.

    Danke an Carlsen, dass diese Geschichte veröffentlicht wurde. Für mich war es das Geld absolut wert. (...)
    Zitat Zitat von Dr.Tom
    (...) Mit einer Stilmischung aus Realismus, karikaturesker Verzeichnung und asiatischer Kunst entwickelt der Comic Bilder, in die sich eintauchen lässt und die einen dann - mit der tendenziell chinesisch-japanischen Flächigkeit der Naturdarstellung - dennoch immer wieder zur Distanz und zur Besinnung auf das (abstrakte) Thema nötigen.

    Ähnlich changiert die Erzählung: Die Geschichte lenkt einen im ersten Teil immer wieder auf andere mögliche Entwicklungspfade, deren Sujets man kennt - den Sozialroman (mit einer anderen Perspektive auf Fremdenfeindlichkeit), die enthnographische Erzählung (über den harschen Süden mit seinen archaischen Traditionen), die Liebesgeschichte oder den Entwicklungsroman (der bis in den zweiten Teil hineinragt)... Erst spät wird das eigentliche Thema enthüllt.

    Das Thema aber ist tiefsinnig - oder möchte es zumindest sein - und dazu will ich ein paar Gedanken zur Diskussion stellen. Deshalb enthält der Text ab hier notgedrungen SPOILER.

    *Jenseits der Zeit* hat ein religiöses Thema - es geht um Wiedergeburt, die als tragendes Element aus dem Hinduismus und Buddhismus vertraut ist (es gibt auch noch ein paar andere religions- und geistesgeschichtliche Orte, an denen die Wiedergeburt eine Rolle spielt - bei Platon etwa - aber ich will mich hier auf die beiden großen Religionen beschränken, die die Wiedergeburt am intensivsten durchgearbeitet haben). Auffällig finde ich, dass die Wiedergeburt, die für die fünf ProtagonistInnen der Geschichte doch immerhin DIE große Entdeckung bilden, ohne jede Perspektive auf einen überschreitenden, "größeren" Sinn verhandelt wird: Die bahnbrechende Erkenntnis beschränkt sich darauf, dass die Fünf in jedem Leben sich treffen und so über die Zeit (eigentlich die jeweilige biographische Zeitspanne) hinaus miteinander verbunden sind. "Wir werden uns wiedersehen", ist gewissermaßen alles, was die Erzählung den Fünfen an Sinn anzubieten hat (ergänzt vielleicht noch úm das "Wir kennen uns von früher", was aber auch keinen überschreitenden Sinn bietet).

    Man könnte das auch als eher deprimierend empfinden: Die große Liebesgeschichte von Lisa funktioniert ja nicht in dem "gegenwärtigen" Leben, sondern scheitert. Ob sie ein andermal glückt, steht dahin, aber selbst wenn sie gelingt, bleibt dies auch auf eine weitere Biographie beschränkt. Die anderen, in Lisa verliebten Figuren kommen jeweils nicht zum Zug - oder, wenn die einmal eingestreute Bemerkung so interpretiert werden darf, sie wechseln sich zwar miteinander ab, aber auch in diesem Fall bleibt sozusagen alles immer dasselbe. Was uns die Geschichte liefert, ist die Ewige Wiederkehr des Gleichen - allenfalls mit kleinen Variationen - über unendlich viele Leben hinweg und ohne Möglichkeit des Ausstiegs.

    Für den Buddhismus ist gerade diese ewige Wiederkerhr des Gleichen das Rad des Leidens, aus dem es einen Ausweg geben muss. Entsprechend kennt der Buddhismus für das Menschenleben die Chance der Höher- und Weiterentwicklung: Die verbliebende Schuld, die Beschädigungen des ungelösten, vorherigen Lebens - das Karma der vergangenen Existenzen - gilt es hier zu verarbeiten und eine höhere Bewusstseinsstufe zu erringen. Am Ende des gelungenen Weges steht das Nirvana - der Ausstieg aus dem Rad des Leidens, wobei der Buddhismus sich dessen enthält, das Nirvana eindeutig zu beschreiben: als Transzendierendes ist es aus dem Blickwinkel unserer Existenz nicht hinreichend zu erfassen.

    Die großen Religionen kreisen alle um ein gemeinsames Thema: Erlösung. Um diese beschreiben zu können, greifen sie alle über "diese Welt" hinaus in eine überschreitende (transzendente) Sphäre. *Jenseits der Zeit* tut das nicht (auch wenn die Erzählung mit "jenseits" betitelt ist - mit der Ewigen Wiederkehr bleibt sie im Bereich der endlosen Geschichte "dieser Welt"). Warum? Spiegelt sie das seit der Religionskritik des 18. Jahrhunderts immer wieder verkündete "Ende der Religion"? Drückt sich in ihr eine Zeitstimmung aus, die die Überschreitungsdimension des Religiösen (mit Freud gesprochen) als Illusion betrachtet - und Aufgeklärtheit als den illusionslosen Abschied von religiösen Hoffnungen sieht? Und die dann die ja dennoch bleibende Sehnsucht des Menschen nach dem Überschreitenden eher esoterisch in eine Ewige Wiederkehrt projiziert?
    (...)
    Dr.Tom
    Zitat Zitat von navigator
    Es ist schön, das du dich mit diesen Comic und dem Thema auseinandergesetzt hast und solche tiefen Gedanken nachvollziehst. Es hat dich erreicht und du erblickst die Tiefe hinter diesem Werk mit Gefühl. Das ist das schönste Kompliment was man den Künstlern geben kann.

    Für manche ist es nur ein schön gezeichnetes und erzähltes Comic, für andere viel mehr...
    (...)
    Zitat Zitat von Hate
    Vermutlich könnte man den Kern dieser Geschichte genauso gnadenlos zerpflücken, wie Stefan Dinter mal den Plot von "Blacksad" zerlegt hat*. Aber genau wie "Blacksad" bleibt "Jenseits der Zeit" trotz aller Unlogik ein wunderbarer Comic mit einer einzigartigen Atmosphäre.

    * http://www.comicgate.de/whatever02.htm
    Zitat Zitat von felix da cat
    Zitat Zitat von Dr.Tom
    Die großen Religionen kreisen alle um ein gemeinsames Thema: Erlösung. Um diese beschreiben zu können, greifen sie alle über "diese Welt" hinaus in eine überschreitende (transzendente) Sphäre. *Jenseits der Zeit* tut das nicht (auch wenn die Erzählung mit "jenseits" betitelt ist - mit der Ewigen Wiederkehr bleibt sie im Bereich der endlosen Geschichte "dieser Welt").
    Zu beachten ist natürlich, dass der Originaltitel ein anderer und auch viel poetischer ist, frei übersetzt etwa: "Wohin der Blick nicht trägt"
    Zitat Zitat von TigerRider
    Sehr guter Einwand!
    Zitat Zitat von felix da cat
    (...) Da dies so 'ne Art Rezension ist, sollten alle, die noch vorhaben, den Band zu lesen, sich jetzt verabschieden, 's wird einiges verraten (ich werd 'nen Teufel tun und das alles "zuspoilern".

    Der Band "Jenseits der Zeit" ist für mich ein ... ähem ... dualer Comic und das in mehrerlei Hinsicht.
    Zum einen natürlich in Bezug auf die Anzahl der Teile (in Frankreich klar auf zwei Alben verteilt), zum anderen aber auch was Ort (1. Teil: Süditalien, 2. Teil: Istanbul und Costa Rica) und Zeit (1. und 2. Teil liegen 20 Jahre auseinander) betrifft.
    Angesichts der Hauptthematik des Buches, der Reinkarnation, böten sich allein in dieser Dualität mannigfaltige weitere, über die von Dr. Tom hinaus reichende religiöse Deutungen - Stichworte: Januskopf, Yin und Yang, Parsismus usw. - an, doch würde man hierbei mE den Blick auf das Wesentliche verlieren und - nebenbei bemerkt - weit über das Ziel hinaus schiessen..

    Der erste Teil breitet sich noch wenig mit religiösen Motiven aus; erzählt wird vielmehr die (be)rührende Geschichte einer Kinderfreundschaft, die sich auch gegen die von den Dogmas der Erwachsenen (z.B.: "Spiel nicht mit den Fremden !") gesetzten Widerstände bewährt.
    Erstaunlich unaufgeregt, ja geradezu langsam fließt die Geschichte dahin ohne langweilig zu werden.
    Nicht die großen, spektakulären Ereignisse ziehen den Leser in den Bann sondern eher die kleinen alltäglichen wie die Mutprobe, die die vermeintliche Hauptfigur William (wenngleich sich das Tun und Streben der drei Jungen wesentlich um Lisa kreist, rückt sie erst später völlig in das Zentrum der Erzählung; auch hier fast eine Verlagerung der Hauptfigur vom 1. zum 2. Teil) zu bestehen hat oder - gleich zu Anfang - die kleinen Boshaftigkeiten, insbesondere des männlichen Teils des jungen Quartetts.
    Vielleicht war es nicht nur die örtliche und zeitliche Spaltung der Geschichte, die den französischen Verleger Dargaud bewog, diese in zwei statt - wie bei der vorhandenen Seitenzahl eigentlich üblich - in vier Alben zu veröffentlichen sondern auch die bereits erwähnte Langsamkeit, die so diametral entgegen gesetzt steht zum üblichen Sinnenbombardement. Befürchtete man, dass man viele Leser mit der relativ handlungs(im Sinne von action-)armen Geschichte verlieren würde ?
    Ein gewisser Impetus wird dennoch und ausgerechnet durch die 2seitigen Einschübe im ersten Teil der Handlung bewirkt. Einschübe, die schon erahnen lassen zu welcher Thematik wir im zweiten Teil der Handlung hingeführt werden.

    Die Assoziation, die mich nach dem Lesen des ersten Teils befiel, und das ist sicher nicht die schlechteste, war die von großem Kino. Einem in epischer Breite gemächlich aber stetig erzähltem Werk, dass langsam - durch das Erzählen kleiner, unterhaltsamer, in die Charaktere einführender Episoden - auf seinen unvermeidlichen Höhepunkt zuschreitet.

    Kaffeepause.
    Zitat Zitat von felix da cat
    2. Teil (der dualen Rezension):

    Mit dem zweiten Teil beginnen die Schwierigkeiten des geneigten Lesers, der mit Esoterik und Religion nicht viel "am Hut" hat.
    Zweifelsohne ebenso wunderbar wie der erste Teil gezeichnet, verlieren sich die Helden nicht nur in einem in dunkle Farben getauchten Dschungel (der den zweiten Teil somit erneut zu dem ersten der hellen, Unbeschwertheit vermittelnden Farben absetzt) sondern später auch in "Erklärungen" der Ereignisse, die für den areligiösen Leser schwer zu verdauen sind:
    Die zu einem Quintett angeschwollene Gruppe der Hauptfiguren unterliegt nämlich einer permanenten Reinkarnation.

    Freilich bietet dies auch dem hierfür empfänglichen Leser keinen Trost, denn wenn sich in diesem Buch Leben reinkarniert, dann auch der psychopathische Charakter von Leopold (jetzt Thomas).
    Wenn sich Leben reinkarniert, dann fühlt sich Lisa erneit in einer Art "amour fou" zu ausgerechnet der Person hingezogen, die ihr so viel Pein bereitet hat und von der sie auch in Zukunft nichts anderes zu erwarten hat.
    Hier wird die Reinkarnation dargestellt als ein Perpetuum mobile des Leidens.

    Noch ein Wort zum Titel:
    Selbiger hieße sinngetreu übersetzt: "Wohin der Blick nicht trägt".
    Angesichts des Inhaltes der Geschichte empfinde ich diesen als wesentlich doppelbödiger als den deutschen, ganz abgesehen davon, dass er poetischer ist, etwas, was einem poetischen Comic auch ansteht.
    Warum konnte Carlsen dem nicht Rechnung tragen ?
    Zitat Zitat von TigerRider
    Zitat Zitat von felix da cat
    ... Zweifelsohne ebenso wunderbar wie der erste Teil gezeichnet, verlieren sich die Helden nicht nur in einem in dunkle Farben getauchten Dschungel (der den zweiten Teil somit erneut zu dem ersten der hellen, Unbeschwertheit vermittelnden Farben absetzt)...
    Ich fühlte mich beim betrachten sehr an Frank Pé erinnert. Die Passage mit den Vögeln vor dem Wald hat was von "Zoo".
    Zitat Zitat von Dr.Tom
    (...) Zum Titel: Der französische Originaltitel weist auf etwas Ähnliches wie der deutsche Titel, nämlich darauf, dass es *jenseits* der normalen Erfahrungswelt - dort, wohin unsere Sinnlichkeit (*le regarde* des yeux humaines, wenn ich das mal so fortsetzen darf) nicht vordringen kann - etwas gibt, das aber existenziell bedeutsam und sinnstiftend für das Leben der Menschen/Hauptfiguren ist. Auf dieses *Jenseits* zielte meine Überlegung und da es in beiden Titelformulierungen damit um denselben Aspekt geht, den ich herausheben und diskutieren wollte, habe ich mich der Verständlichkeit halber auf den deutschen Titel beschränkt. Dieser Aspekt ist, dass interessanterweise dieses *Jenseits* - ou le regard ne porte pas - immer noch eine Immanenz ist, keine Transzendenz. Genau das macht den Unterschied zu den Erlösungskonzepten der Religionen aus - und hier auch gerade wieder den Unterschied zu den Reinkarnationsvorstellungen des Buddhismus und der hinduistischen Religionen, die die Wiegen dieser Vorstellungen sind. Ich finde das immer noch bemerkenswert - aus den Religionen geschöpft, wird hier deren Konzeption verkürzt bzw. immanentistisch gewendet. Das müßte eine religiöse (oder theologische oder religionsphilosophische) Beschäftigung mit der Erzählung eigentlich genauso stören, wie eine religionslose...

    Mit Blick auf den französischen Titel übrigens lässt sich noch erwähnen, dass 1970 Vincente Minelli in seinem Film *On a clear day you can see forever* eine ähnliche Geschichte erzählt, jedenfalls was den Punkt betrifft, um den es mir geht: Barbara Streisand und Yves Montand sind hier in eine amour fou verwickelt und treffen sich unausweichlich in jeder Reinkarnation wieder. Der widerborstige Punkt ist hier, dass sie sich in dem Leben, das in der erzählten Zeit des Films als Gegenwart dargestellt wird, von ihrer sozialen Herkunft und ihrer intellektuellen Kompetenz her so unterscheiden, dass sie ihrer wechselseitigen Anziehung nicht nachgeben können. In einer Schlüsselszene singen sie sich von zwei entfernten Orten aufeinander zu - und das Sinnversprechen des Films ist, ähnlich wie in JdZ, dass sie sich wieder begegnen werden - in einem anderen Leben unter geeigneteren Umständen, also vielleicht demnächst wieder zueinander finden können -, doch das ist dann auch hier schon alles. Eine Überschreitung der Immanenz, ein Ausstieg aus der Kette der Reinkarnationen und der Gebundenheit aneinander erscheint nicht möglich. Mit dem Titel, der auch auf das Sehen abhebt, hat der Film zudem eine Parallel zum französischen Titel.

    Interessant wäre, ob sich Abolin und Pont von diesem Film haben inspirieren lassen.

    Dr.Tom

  2. #2
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    Herzlichen Dank, hate !
    7 Seiten voller Statements nach den dem Titel entsprechenden Postings zu durchsuchen, ist schon eine enorme Fleißarbeit !

    Da der Doc in seinem vorletzten Beitrag dazu einlud, hier ein paar Ansichten:

    Original geschrieben von Dr. Tom:
    Zum Titel: Der französische Originaltitel weist auf etwas Ähnliches wie der deutsche Titel, nämlich darauf, dass es *jenseits* der normalen Erfahrungswelt - dort, wohin unsere Sinnlichkeit (*le regarde* des yeux humaines, wenn ich das mal so fortsetzen darf) nicht vordringen kann - etwas gibt, das aber existenziell bedeutsam und sinnstiftend für das Leben der Menschen/Hauptfiguren ist.
    existenziell bedeutsam: d'accord
    sinnstiftend für das Leben: kommt drauf an wie man das Leben sieht; wenn das Leben keinen Sinn hat (man weiß es nicht, man weiß es nicht ...) hat dessen endlose Wiederholung natürlich auch keinen

    Auf dieses *Jenseits* zielte meine Überlegung und da es in beiden Titelformulierungen damit um denselben Aspekt geht, den ich herausheben und diskutieren wollte, habe ich mich der Verständlichkeit halber auf den deutschen Titel beschränkt.
    Jepp, beide Titel laufen auf das Gleiche hinaus, obwohl ich den Originaltitel noch ein bißchen treffender finde und für um einiges subtiler halte.
    Im Buch ist nämlich nichts "jenseits der Zeit". Auch nichts jenseits unserer zeitlichen Wahrnehmung, nur jenseits unserer Wahrnehmung von menschlicher Existenz; die Reinkarnationen finden im Rahmen der uns vertrauten zeitlichen Ordnung statt.
    Mit der Änderung nur eines Wortes wäre der deutsche Titel treffender geworden: "Jenseits ihrer Zeit" würde die Zeit "personalisieren" und so deutlich machen, dass man sich hier auf die Lebenszeit bezieht.
    Deshalb bin ich mit dem eventuell auch an einem Film orientierten Titel ("Jenseits der Stille") nicht ganz glücklich.
    "Wohin der Blick nicht trägt" läßt offen, ob es sich um einen räumlichen oder zeitlichen Blick (den Blick in die Vergangenheit oder in die Zukunft) handelt.
    Wir können uns zwar durchaus Gedanken über die Zeit außerhalb unserer Lebensspanne (vor der Geburt, nach dem Tod) machen, aber auf das eigene Leben bezogen, kann unsere Erinnerung nicht vor Geburt und unsere Projektionen für die Zukunft nicht nach unseren Tod hinaus reichen.
    Daher finde ich den Originaltitel stimmiger.

  3. #3
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    Original geschrieben von Dr. Tom:
    Dieser Aspekt ist, dass interessanterweise dieses *Jenseits* - ou le regard ne porte pas - immer noch eine Immanenz ist, keine Transzendenz. Genau das macht den Unterschied zu den Erlösungskonzepten der Religionen aus - und hier auch gerade wieder den Unterschied zu den Reinkarnationsvorstellungen des Buddhismus und der hinduistischen Religionen, die die Wiegen dieser Vorstellungen sind. Ich finde das immer noch bemerkenswert - aus den Religionen geschöpft, wird hier deren Konzeption verkürzt bzw. immanentistisch gewendet. Das müßte eine religiöse (oder theologische oder religionsphilosophische) Beschäftigung mit der Erzählung eigentlich genauso stören, wie eine religionslose...
    Ich glaube, dass die Beschäftigung mit dem Thema Reinkarnation im Buch schlicht und einfach auf die Faszination der Autoren für das Konzept selbiger beruht. Mag sein, dass diese Faszination bei Abolin und/oder Pont auch religiös untermauert ist, dies lassen sie in der Geschichte selbst jedoch nicht durchscheinen.
    Mir fiel auf, dass der Todestag des vorherigen Lebens der Hauptakteure auf den Geburtstag ihres neuen Lebens fiel.
    Dass würde bedeuten, dass der Mensch nach Abolins und Ponts Erzählung seine pränatale Phase seelenlos verbringt. Auch dies dürfte kaum im Sinne der buddhistischen Lehre sein, was die areligiöse Herangehensweise der Beiden an diesen religiösen Stoff nur noch mehr unterstreicht.
    Dass hier keine Erlösungsideologie verkündet wird, finde ich positiv. Wenn überhaupt Gegenstand der Erzählung, wird eine solche dekonstruktiviert.
    Das Leid wird permanent recyclet, Thomas ist ewig ein Psychopath, Lisas hoffnungslose Liebe muss stets aufs Neue durchlitten werden, wahrlich keine erstrebenswerten Aussichten ...

  4. #4
    Mitglied Avatar von deif
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    Die Lehre des Buddhismus und des Hinduismus hat mit der Reinkarnationslehre im Comic definitiv nichts zu schaffen. Genau weil, wie du sagst Cat, das Leid permanent recyclet wird und daher weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung des Zustandes der Personen stattfindet im neuen Leben.

    Für mich ist dieser Reinkarnationskunstgriff eigentlich nichts weiter als die nicht unbedingt naheliegenste Methode, der Geschichte eine gewisse Mystik, ein metaphysisches Geheimnis zu verleihen. Religiös auskonstruiert ist diese Reinkarnationsvorstellung nicht (okee, sind mMn auch die anderen nicht). Aber das muss sie auch nicht sein. Sie ist einfach Teil des Kunstwerks "Jenseits der Zeit", soll zum Denken anregen während des Lesens, aber stellt nicht den Anspruch an sich selber, in sich zu funktionieren.

    Ich finde zwar, dass Erlösungskonzepte durchaus eine Berechtigung haben, "Jenseits der Zeit" hätte aber anders konstruiert werden müssen, wenn ein solches hätte zum Zuge kommen sollen.

    Aber wie schon angetönt: Die Reinkarnationslehre steht für mich ganz klar im Hintergrund der Geschichte und hat hauptsächlich den Zweck, die Bedeutung der Beziehungen der Protagonisten zu verstärken. Sprich: Sie ist die tragende Basslinie in der Freundschafts-Hymne...

  5. #5
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    Die Tragödie von Leopold Rudesky ist ja noch einigermaßen nachvollziehbar: Ein jähzorniger Goldgräber, der seine Familie umbringt, als er erkannt hat, dass er nie Gold finden wird. Sowas ist schon häufiger passiert.

    Aber die Geschichte von Thomas ist völlig absurd: Ein junger Maler, glücklich verliebt, wird durch ein Buch dazu getrieben, sein bisheriges Leben aufzugeben, ans Ende der Welt zu reisen, um dort ein Verbechen zu wiederholen, dass 10 Jahre vor seiner Geburt begangen wurde. Wenn das an einen Film erinnert, dann eher an "Shining".

  6. #6
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    Ich finde auch, dass die Figur des Thomas eindeutig der Schwachpunkt der Story ist. Er ist von der ersten Erwähnung im ersten Teil an wie ein Mythos, von dem ich lange glaubte, er sei eher eine Projektion von Nina. Dass er dann, gerade erst in Erscheinung getreten, einen Großteil der Tragik tragen soll, hat mich gestört. Hatte ich mir doch sehr eine "Lösung" gewünscht, die innerhalb dieses (erzählerisch wie grafisch) toll gezeichneten Quartetts liegt. Also ein Comic wie das Leben: kein Wunschkonzert eben ;-).

  7. #7
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    Danke erst einmal für diesen eigenen Thread - das war eine gute Lösung.

    Felix Gedanke, dass die Geschichte auch als Dekonstruktion der klassischen Einbettung der Reinkarnation in ein Erlösungskonzept gelesen werden kann, finde ich interessant. Wenn dem so ist - bzw. wenn der "Text" des Comic so gelesen werden kann -, dann würde das meine Vermutung bestätigen, dass wir es hier mit einer Erzählung zu tun haben, die einer immanentistischen Zeitstimmung entspricht und entspringt.

    Streicht das dann in Deiner Sicht auch die "Reste" an Erlösungsaspekten, wie sie in den 1980er Jahren in den damals populären Reinkarnationspsychologemen enthalten waren? Damals sollten Hypnotherapie und die sogar explizit so benannte "Reinkarnationstherapie" (etwa von Thorwald Dethlefsen) "Rückführungen" ermöglichen. Ziel war aber dabei nicht der Ausstieg ins Nirvana, sondern lediglich eine "Bewusstseinserweiterung", eine Art Selbstverständigung über das eigene Schicksal, die - gewissermaßen mit einer esoterischen Wende der Psychoanalyse, die ja auch "Vergangenheitsbewältigung" betreibt - eine tiefere Einsicht in die Gründe des eigenen Lebens, seiner Fallstricke und Probleme bieten sollte. Bei Dethlefsen gab es dann die Vorstellung einer Chance, dadurch sozusagen auch Karma aufzuarbeiten, zum Zweck der Verbesserung des jetzigen eigenen Lebens. Wenn man so will, eine immanentistische Strategie der Leidbewältigung, die mit den früheren Leben die Transzendenz in die Immanenz einzieht.

    Ist das in JdZ gestrichen? Ich habe den Eindruck, dass es so ist. In diesem Fall wäre das also die radikalere Immanentisierung als bei Dethlefsen.

    Gut gefällt mir freilich auch der Gedanke, dass die Erzählung in erster Linie einen "Lobgesang der Freundschaft" anstimmen will. So gesehen wäre dann das Reinkarnationsthema nur Vehikel einer anderen Ausdrucksabsicht. (Allerdings kann man dann immer noch über dieses Vehikel und seine Qualität diskutieren, wie wir es hier tun, denke ich.)

    Bin gespannt auf weitere Postings.

    Dr.Tom

  8. #8
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    Nachtrag: Übrigens finde ich das Schlußpanel bemerkenswert: Man könnte zunächst ja meinen, dass die Figur sich töten will, um nun den Freunden nachzufolgen und diesen alsbald wieder zu begegnen (übrigens ein goof: Wenn die Reinkarnation im Augenblick des Todes innerhalb der Zeitlinie erfolgt, müssten überlebende Figuren ihre Freude als neugeborene Kinder wiederfinden können... Zudem fragt sich, wie ihre Beziehungen aussehen können, wenn sie nicht zur selben Zeit sterben und wiedergeboren werden - wie sieht dann wohl die Liebesgeschichte von Lisa und Thomas aus? Zweiteres würde freilich interessante Variationen zum Thema ermöglichen und muss nicht als goof gesehen werden.). Die Tatsache, dass im letzten Panel aber die Figur wieder auftaucht, erscheint mir als sehr lebensbejahend. Im Grunde ist das der für mich anrührendste Moment in der im zweiten Teil entfalteten Reinkarnationsstory, die mich ansonsten persönlich nicht da abholt, wo ich stehe (bin religiös, aber das ist nicht die Motivation, die mich zum Schreiben bewegt, sondern mich interessiert hier eher der der zeitdiagnostische Aspekt).

    Nachtrag 2: Shining - in der Tat, es gibt in der Erzählung auch eine Horrorgeschichte und einige Elemente, die in dieses Genre gehören. Das gibt der Immanentisierung des Reinkarnationsthemas eine durchaus schillernde Qualität. Und wirklich ungetrübt glücklich scheinen die Figuren - auch das kann man dem Schlußpanel entnehmen, wenn man die Mimik interpretiert - durch ihr Wissen um die endlose Kette der Wiedergeburten nicht zu werden...

    Dr.Tom
    Geändert von Dr.Tom (18.06.2005 um 18:26 Uhr)

  9. #9
    Mitglied Avatar von TigerRider
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    Ich finde es bemerkenswert, wieviel in dem Band über die Menschen und das, was sie ausmacht, steckt. Man könnte es fast als Lehr- und Veranschaulichungsmaterial für einen eventuellen ausserirdischen Besucher zur Hand nehmen.

    Die Menschen in dem Comic- was macht sie aus, was treibt sie an? Ihre Gefühle, Sehnsüchte, Ängste, Leistungen, Freundschaften- und ihre Vergangenheit.

    Viele Details von JdZ warten mit erschreckenden und unerwartet topaktuellen menschlichen Verhaltensweisen auf. In den Tagen, nachdem ich den Band gelesen hatte und noch darüber nachdachte, las ich die Meldung, das ein 20jähriger Türke aus Wiesbaden seine Schwester "wegen Schande über die Familie, etc." erschossen hat. Da kam mir natürlich sofort der Mord von Paolos Vater an Lisas Vater in den Sinn. Beim Lesen zwar in den frühen 1900er Jahren und somit "lange her und weit weg", tatsächlich aber stets präsent in unserer Welt: "Ehrenmorde".
    Ich vermute, das Abolin und Pont diese Problematik bewusst integriert und in Szene gesetz haben, meine Hochachtung vor der Leistung! Das Wechselbad der Gefühle, und wie man als Leser durch Paolo, Lisa und Alex miterlebt, ist enorm.

    Da fand die Liebe einen Weg, und wurde doch zerstört.

    In dem Zusammenhang eine Frage: Die Schwester Paolos wird doch nach dem Mord nicht mehr erwähnt und ihr Schicksal bleibt offen, oder habe ich da was übersehen?

    (wird fortgesetzt)

    Jens

  10. #10
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    Wäre es in so einem Fall nicht üblich gewesen, dass Paolos Familie Francesco gezwungen hätte, Paolos Schwester zu heiraten?

  11. #11
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    Original geschrieben von Dr. Tom:
    Streicht das dann in Deiner Sicht auch die "Reste" an Erlösungsaspekten, wie sie in den 1980er Jahren in den damals populären Reinkarnationspsychologemen enthalten waren?
    Dazu muss ich mich enthalten, da mir diese nicht bekannt sind.
    Was "Hypnosetherapie" betrifft bin ich skeptisch, was die "Rückführung" von Patienten, Probanden oder wie man sie auch immer nennen mag, in vergangene Leben angeht (anders, wenn es die früheste Kindheit betrifft).
    Angesichts der Tatsache, dass dabei häufig herauskommt, dass die "Rückgeführten" davon berichten in vorherigen Leben entweder berühmte Persönlichkeiten oder doch zumindest in deren Umfeld gewesen zu sein, glaube ich, dass bei diesem Verfahren Projektionen (im psychologischen Sinn: also Wunschdenken) den "Ton angeben".
    Kleiner Scherz am Rande: Warum reist man mit der Hypnosetherapie nur in vergangene und nicht zukünftige Leben ?
    Weil aus den Rückgeführten sonst Vorgeführte werden !

  12. #12
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    Original geschrieben von Dr. Tom:
    Nachtrag: Übrigens finde ich das Schlußpanel bemerkenswert: Man könnte zunächst ja meinen, dass die Figur sich töten will, um nun den Freunden nachzufolgen und diesen alsbald wieder zu begegnen
    Wohl wahr, dass wäre aber auch zuviel des Guten (oder im Falle von Selbstmord angebrachter: des Schlechten).
    Nach den vorhergehenden tragischen Ereignissen noch einmal draufsatteln, würde die Geschichte dann doch zu pathetisch werden lassen.
    Nee, das haben die Autoren schon recht gut gemacht.

    Original geschrieben von Dr. Tom:
    (übrigens ein goof: Wenn die Reinkarnation im Augenblick des Todes innerhalb der Zeitlinie erfolgt, müssten überlebende Figuren ihre Freude als neugeborene Kinder wiederfinden können... Zudem fragt sich, wie ihre Beziehungen aussehen können, wenn sie nicht zur selben Zeit sterben und wiedergeboren werden - wie sieht dann wohl die Liebesgeschichte von Lisa und Thomas aus? Zweiteres würde freilich interessante Variationen zum Thema ermöglichen und muss nicht als goof gesehen werden.).
    Gut, dass der Fehler nicht ganz so schlimm gewesen war, sonst wär's nämlich ein supergoof.
    Mal im Ernst:
    Die oben aufgeworfene Frage ist ja im Comic bereits zum Teil beantwortet worden:
    Lisas Freund waren zuvor ihre Kinder.
    Fragt sich, ob diese auch in zukünftigen Leben nur Staffage für die Liebesgeschichte zwischen Lisa und Thomas sein sollen ...

    Dass sie sich nicht nur zeitlich sondern auch örtlich immer wieder treffen, geht übrigens über die reine Reinkarnationslehre hinaus: William reist nach Süditalien, wo er bereits 3 seiner Bekannten aus früheren Leben trifft (2 davon scheinen sogar im gleichen Dorf geboren); Lisa nach Istanbul, wo sie Thomas kennen lernt.
    Ist hier die gleiche Magie wie beim zu Anfang der Geschichte von Lisa gefundenen Stein am wirken oder nur "magische Anziehungskraft" ?

  13. #13
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    @tigerrider: Tatsächlich finde ich den ersten Teil gelungener als den zweiten: Hier sind die Figuren hervorragend eingeführt, sehr sensibel charakterisiert und in eine Landschaft eingebunden, die ihren Gefühlen und Entwicklungen zugeordnet ist. Auch die Themen sprechen mich mehr an: Die Strenge der Sitte(n) im *alten* Süden, die Schwierigkeiten der *Zugereisten* und die soziale Problematik sind gut duchgeführt und auf der Handlungsebene überzeugend zuende gebracht (aufgelöst im filmischen Sinn). Gerade bei der sozialen Problematik findet die Erzählung zudem zu einer recht differenzierten Darstellung, die nicht einfach aufgeht - obwohl die Fremdenfeindlichkeit der Einheimischen und ihre Gewalt nicht zustimmungsfähig sind, machen die Autoren zugleich erkennbar, dass diese Feindseligkeit und Gewalt aus der Angst vor Existenzgefährdung und dem Versuch, sich selbst in ihrer Tradition zu sichern, kommen. Das ist hübsch gemacht...

    @felix: Um Missverständnisse zu vermeiden - ich halte nichts von Dethlefsen und Co. Für mich war/ist es nur interessant zu sehen, dass in den späten 1980ern bei gleichzeitiger *Säkularisierung* und zunehmender populärer Selbstverständlichkeit des Rückzugs von der Religion (oder jedenfalls den Kirchen und dem Christentum) gleichzeitig so etwas wie "Umlagerungen" der religiösen Sehnsucht entstehen - wie eben diese esoterische Verballhornung der Reinkarnationslehren des Buddhismus und Hinduismus in Gestalt der "Rückführungen".

    Supergoof ist supergut! :-} >kicher<

    Die Magie, die in dem Stein/Schmuckstück liegt, ist in der Tat noch einen Blick wert. Wie passt die Magie in die Immanenz? Klassisch wäre sie der Versuch, sich die Transzendenz verfügbar zu machen, also in die Immanenz einzuziehen - daher sind magische Bemühungen z.B. christlicherseits immer kritisiert worden (der "Aberglaube" besteht in dieser verdinglichenden Gegenwendung gegen das Göttliche und daher zu verurteilen, zudem spiegelt sich in der kämpferischen Auseinandersetzung mit ihm noch das Ringen des Christentums mit den älteren *heidnischen* Religionen und ihrer Irrationalität). Aber hier passt diese Zuordnung nicht, denn der Stein/das Schmuckstück ist ja eine Art Katalysator und wird, weil dadurch die Bewusstseinserweiterung in Gang gesetzt wird, von der Erzählung positiv bewertet. Vielleicht muss man zur Interpretation auf eine Metaebene gehen und sagen, dass diese Magie im Rahmen einer mit der Immanentisierung verbundenen Rückwendung der gesellschaftlichen "Zeitstimmung" aufs *Heidnische* angesiedelt ist? In der Tat gibt es derzeit ja sogar philosophische Bemühungen, das "Heidnische" als das gegenüber den monotheistischen Religionen humanere Konzept darzustellen: Odo Marquard hat letzthin den Polytheismus daher gelobt und ihm Toleranz zugesprochen, die es in den Monotheismen nicht gebe (was freilich sehr kurzschlüssig ist, aber fürs Feuilleton taugt).

    Offen ist für mich noch die Frage, weshalb die Autoren sich bei der Naturdarstellung ästhetisch an asiatische Kunst anlehnen. Einen unmittelbaren Bezug zur Reinkarnationsthematik finde ich da nicht. Zwar haben wir in Japan auch den Buddhismus, aber in China sieht das anders aus. Von Konfuzius zur Reinkarnation und zu der Erzählung des Comic sehe ich keinen Bogen... Und die anderen Themen kann ich auch nicht direkt in einen Bezug zur asiatischen Kunst stellen. Gibt es Ideen dazu?

    Dr.Tom

  14. #14
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    Nach den weltlichen Vergnügungen (Brasilien - Mexiko, was sonst), noch ein paar Gedanken zum Außerweltlichen bevors ins Innerweltliche geht (Schlummern).

    Original geschrieben von Dr. Tom:
    Aber hier passt diese Zuordnung nicht, denn der Stein/das Schmuckstück ist ja eine Art Katalysator und wird, weil dadurch die Bewusstseinserweiterung in Gang gesetzt wird, von der Erzählung positiv bewertet. Vielleicht muss man zur Interpretation auf eine Metaebene gehen und sagen, dass diese Magie im Rahmen einer mit der Immanentisierung verbundenen Rückwendung der gesellschaftlichen "Zeitstimmung" aufs *Heidnische* angesiedelt ist?
    Deinen ersten Satz unterschreibe ich sofort.
    Eine so intensive religiöse Deutung von JdZ wie Du sie präsentierst, halte ich allerdings nach wie vor für zu weit gegriffen.
    Reinkarnation ist für die Autoren ein faszinierendes Vehikel, eine Geschichte zu erzählen und das nutzen sie, ohne eine Lehre zu verkaufen (daher keine Tranzendenz).
    Mag sein, dass sie selbst an Reinkarnation glauben; die Wahl des Themas kommt sicher nicht von ungefähr und deutet zumindest auf eine gewisse Affinität, aber alle darüber hinaus gehenden Interpretationen halte ich mangels entsprechenden Hinweisen im Comic für gewagt.

    Gleiches gilt mE für die ... ah ... magischen Momente.
    Der Stein ist - wie in Deinem ersten zitierten Satz erwähnt - ein Katalysator. Ist eben immer ein bißchen "glaubhafter", man hat eine "Maschine" oder besser: ein Gimmick über das kein anderer verfügt (sonst könnte ja jeder eine solche Reise in vergangene Leben unternehmen) als wenn man ohne jeglichen Hebel übernatürliche Wahrnehmungen hätte.
    Mag sein, dass die Autoren im Rahmen eines Trends zum Heidnischen auf die Idee gekommen sind, aber, dass sie deshalb in irgendeiner Weise heidnische Riten propagieren (quasi als Rückbesinnung) kann ich an keiner Stelle des Bandes erkennen.
    Auch als Ungläubiger mache ich mir hin und wieder Gedanken darüber, was wäre, wenn es einen Gott gäbe, ein Gedankenspiel, welches aber dennoch nicht automatisch auf meine Ansichten rückschliessen läßt.

    Kleiner Exkurs: Oft wird vergessen, dass die Verehrung von Steinen nicht per se ein Zeichen für heidnische Riten ist. Auch in sog. Weltreligionen werden Steine, sogar verdammt große Brocken, in Ehren gehalten, man denke an die Kabaa in Mekka bei den Muslimen oder den Shintoismus mit seinem heiligen Berg, den Mount Fujijama.
    Geändert von felix da cat (19.06.2005 um 22:33 Uhr)

  15. #15
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    Original geschrieben von Dr. Tom:Offen ist für mich noch die Frage, weshalb die Autoren sich bei der Naturdarstellung ästhetisch an asiatische Kunst anlehnen. Einen unmittelbaren Bezug zur Reinkarnationsthematik finde ich da nicht. Zwar haben wir in Japan auch den Buddhismus, aber in China sieht das anders aus. Von Konfuzius zur Reinkarnation und zu der Erzählung des Comic sehe ich keinen Bogen... Und die anderen Themen kann ich auch nicht direkt in einen Bezug zur asiatischen Kunst stellen. Gibt es Ideen dazu?
    Welche asiatische Kunst meinst Du ?

    Die Nähe zu selbiger sehe ich nur sehr eingeschränkt, und zwar nur insoweit wie einige japanische Holzschnitte aussehen wie die direkten Vorfahren frankobelgischer Comics. Es ist schon so 'ne Art Treppenwitz der Geschichte, dass Künstler wie Hiroshige, Hokkei, Hokusai, Kuinsada und Kuniyoshi der ligne claire näher stehen als jeglichen Mangas.
    Comic-Fans, die mit diesen Namen nichts anfangen können, rate ich, mal nach diesen zu googeln. Überraschung garantiert !

    Aber vielleicht meinst Du ja eine andere Richtung ?!?

  16. #16
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    Original geschrieben von hate:Wäre es in so einem Fall nicht üblich gewesen, dass Paolos Familie Francesco gezwungen hätte, Paolos Schwester zu heiraten?
    Hängt davon ab, in welcher Ecke der Welt man sich aufhält.
    Ein besonders widerwärtiger Fall von Zwangsheirat wurde vor kurzem auf der Spiegel-online-site veröffentlicht.
    Kann man nur hoffen, dass die dortigen Behörden diese Schweinerei verhindern.
    Immerhin gelang es ihnen vor kurzem, eine wegen einer Vergewaltigung geplante Steinigung zu verhindern. Gesteinigt werden sollte natürlich das Vergewaltigungsopfer...
    Kein Kommentar !

  17. #17
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    Original geschrieben von hate:
    Aber die Geschichte von Thomas ist völlig absurd
    Nicht nur die.
    Bei der Reinkarnation wie sie in JdZ gezeigt wird (nach Tod sofort folgende Wiedergeburt) ergibt sich angesichts einer stets wachsenden Weltbevölkerung ein mathematisch-organisatorisches Problem:
    Wenn jeden Moment mehr Menschen geboren werden als sterben (zumindest momentan und eigentlich seit Beginn der Menschheit, Zeiten von Kriegen und Pandemien mal ausgenommen), müssten natürlich einige Personen seelenlos bleiben ........................
    ..................................
    ...................................
    .................................. hm, wenn ich's so recht überlege: das könnte einiges erklären ...

    Die Wiedergeburt eines Tieres als Mensch - die rechnerisch möglich wäre, vorausgesetzt die Tierbestände verringern sich - stocken die fehlenden Menschenseelen in JdZ offensichtlich nicht auf, denn in allen Rückblenden waren die Hauptpersonen Menschen.

  18. #18
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    Zitat Zitat von felix da cat
    ...
    Bei der Reinkarnation wie sie in JdZ gezeigt wird (nach Tod sofort folgende Wiedergeburt) ergibt sich ...
    Macht es überhaupt Sinn über Reinkarnation logisch
    nachzudenken?

  19. #19
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    Gute Frage.

  20. #20
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    Zitat Zitat von felix da cat
    Die Wiedergeburt eines Tieres als Mensch - die rechnerisch möglich wäre, vorausgesetzt die Tierbestände verringern sich - stocken die fehlenden Menschenseelen in JdZ offensichtlich nicht auf, denn in allen Rückblenden waren die Hauptpersonen Menschen.
    Ein durchaus entzückender Gedanke... frage mich gerade, ob die JdZ-Story nicht sogar gewonnen hätte, wenn die Rückblenden, die vorherigen Leben in der Tierwelt gespielt hätten. Die Intensität hätte nicht gelitten - ähnlich gutes Erzählen vorausgesetzt - und ein gutes Stück des Pathos' (der zumindest mir unangenehm aufgestoßen ist) wäre eliminiert.
    Für dieses Mal zu spät, aber...

  21. #21
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    Erst heute finde ich die Zeit, wieder einmal in diesen Thread zu schauen...

    Zu der "religiösen" Interpretation:

    Ich möchte nicht behaupten, dass alle die Beobachtungen, die ich hier notiert habe, mit den Intentionen der Autoren übereinstimmen bzw. von ihnen beabsichtigt oder reflektiert sind. Ich habe ja gesagt, dass mich die entsprechenden Elemente des Reinkarnationsthemas in erster Linie unter einer zeitdiagnostischen Perspektive interessieren. In dieser Hinsicht nehme ich daher den "Text" (im semiotischen Sinn) des Comic und frage nach den darin enthaltenen oder daran bemerkbaren Qualitäten, die in die Richtung einer "postreligiösen" ("neu-heidnischen") Sinnstiftung bzw. Existenzdeutung weisen. Bezüglich des "Texts" des Comic und der bewussten Intentionen der Autoren kann das dann "überschwenglich" wirken und bezüglich der Zeitstimmung dennoch erfassen, was darin als eine Grundströmung oder populäres Bewusstsein sich ausdrückt. Das ist also ähnlich, wie wenn wir beispielsweise nach den antikommunistischen Implikationen in einen Film wie Don Siegels "Invasion of the body snatchers" (dt. "Die Dämonischen", USA 1958) fragen - diese sind deutlich vorhanden, obwohl Siegel später sogar abgestritten hat, er habe das intendiert. Die Zeit "fängt" sich sozusagen in den Produkten der Populärkultur, besonders den Medien, ohne dass dies immer bewusst geschieht.

    Darüber hinaus will ich auch nicht bestreiten, dass das Reinkarnationsthema nicht das einzige ist, das den Comic trägt, es ist vielleicht nicht einmal zentral, sondern eher "Vehikel" für das Freundschaftsthema (und die daran gebundene Daseinsdeutung des "wirklich Wertvollen"), wie deif plausibel meint.

    Die asiatische Kunst:

    Ich habe keine bestimmten chinesischen oder japanischen Künstler im Blick, dazu bin ich auch nicht tief genug in der asiatischen Kunstgeschichte bewandert. (Es wäre natürlich dennoch interessant, ob sich die beiden Autoren bewusst von einem bestimmten Künstler beeinflussen ließen oder dessen Darstellungen nutzten). Jedoch finde ich es immerhin auffällig, dass die Naturdarstellungen, besonders die Gebirge, in einer asiatisch anmutenden Weise in den oberen Bildbereichen mit schwarzen Linien und Strukturen durchgezeichnet sind, dann aber - um die "Luft dazwischen" einzufangen - nur noch mit Farbe ausgeführt sind und nach unten oft ganz "ausbleichen", so dass damit die Tiefe der Bilder wieder verlorengeht und ein eher ornamentaler Eindruck entsteht. Für mich stellen sich daran anknüpfend so mehr Fragen, als ich selbst Antworten oder Ideen habe...

    Dr.Tom

  22. #22
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    Begeisterte Kritik in der "Berliner Morgenpost":
    http://morgenpost.berlin1.de/content...tt/765291.html

  23. #23
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    Noch begeistertere Kritik in "Spiegel Online":
    http://www.spiegel.de/kultur/literat...363948,00.html

  24. #24
    Mitglied Avatar von Towbson
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    alles recht interessant aber ich denke es wird vielleicht zuviel hineininterpretiert
    klar machen manche statements sinn und sind auch für mich sehr gut nachzuvollziehen. jedoch denke ich es ist eine nette geschichte, schön verpackt und mit viel liebe gezeichnet.

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