Hmmmmm, auch hier bin ich noch zwiegespalten. Sae gefällt mir von allen Charakteren am meisten - sie hat ein gutes Herz, aber gerade deswegen gefällt mir umso mehr, dass sie einige faux pas begeht. Man merkt da sehr gut den Unterschied zwischen absichtlicher Feindseligkeit und Naivität. Mit dem Freund vom Doppeldate hat man noch einen feineren Kontrast. Er sagt zwar, dass er Homosexualität per se nicht ablehnt, hat aber eindeutig viele Vorurteile im eindeutig negativen Sinne. Sae ist da praktisch das Gegenteil, indem sie sehr positiv eingestellt hat, was aber auch zu Vorurteilen führt. Dabei kann man erstmalk festhalten, dass positive Vorurteile zwar ordentlich nerven können, aber kein symmetrisches Bild entsteht und negative deutlich verletzender sind. (Eigentlich selbstverständlich, aber trotzdem wichtig, festzuhalten) Ich denke, man hat da einen guten Mittelweg gefunden zwischen der stereotpyen, völlig realitätsfernen Fujoshi am einen Ende, aber auch der sexuell vollkommen abgeklärten Vorzeige-Ally, die auf Knopfdruck ein komplettes und nuanciertes queeres Manifesto aufsagen kann und immer die richtigen Worte parat hat am anderen Ende - das macht sie menschlich und zeigt, wie wichtig Intention doch bei dem Beurteilen von dem Verhalten von Leuten ist.
Auch interessant (weil provokant, mal wieder) fand ich die Frage, inwieweit Vorurteile gegnüber Fujoshi und Schwule verglichen werden können. Etwas schade war, dass der Unterschied zwischen änderbaren und unänderbaren Eigenschaften als Diskriminierungsgrundlage nicht als Argument herangezogen wurde. Darauf hätte man sehr gut argumentativ aufbauen können - ein mögliches Gegenargument wäre dann "BL zu mögen ist zwar keine inhärenten, sondern eine erworbene Eigenschaft, aber Ausgrenzung deswegen tut trotzdem weh. Beide Arten sind real" Und dann könnte man weitermachen mit der Einfachheit des Versteckens von BL vs Sexualität, den psychischen Konsequenzen usw. Na ja, trotzdem guter Ansatz.
Makoto wird als durchaus negativer Einfluss dargestellt. Aber ich muss ehrlich sagen - bis auf die Szene, in der er Jun zu Sex ohne Kondom drängt, war er mein Lieblingscharakter von den Männern, lol. Klar, total unmoralisch, aber wenigstens weiß er das auch. Gibt kaum was nervigeres, als Charaktere, die ihr Fehlverhalten rationalisieren wollen mit irgendwelchen logischen Wirrungen - Makoto sagt "Ja, was ich tue, ist unmoralisch - das weiß ich und tue es trotzdem". Auf geht's!
Jun stehe ich ambivalenter gegenüber - ich finde ihn zu passiv. (Ba-dum-tish) Aber ernsthaft - er ist intuitiv und reaktiv - er ändert seine Einstellungen nach neuen Erfahrungen und nach den Gesprächen mit Mr. Fahrenheit. Aber ich hätte halt schön gefunden, wenn er etwas Transferarbeit geleistet hätte und etwas mehr Empathie "Warum fühlt sich dieser Charakter so? Wie kann ich das interpretieren?" Da gehe ich nochmal ganz hart in den victim-blaming-Modus
und sage ganz provokant, weil's der Manga ja auch ist: Er beschwert sich über die Welt, tut aber nichts, um sie zu verändern. Muss sie ja nicht gleich systematisch sein oder harte Streite anfangen, aber zumindest mal nachfragen "Ach echt? Woher weißt du das denn?" oder "Wie kommst du denn drauf? Das ist mir eigentlich nicht aufgefallen bisher..."
Der Punkt, dass er eine Beziehung mit Sae angefangen hat, wird offensichtlich noch ausgeführt - da spare ich mir mal eine detaillierte Meinung. Ich weiß ja genau, dass das provozieren soll - trotzdem wird einem ja durchaus geradezu eingedrescht, wie schlecht die Entscheidung war - jede Beziehung zu jedem Charakter leidet darunter. Mal schauen, wie sich das entwickelt. Aber ich bin ganz ehrlich - wenn die beiden zusammenbleiben bis zum Ende, ist mir egal, wie gut das geschrieben ist - das würde mir in keiner Konstellation gefallen, egal wie mutig und provokant.
Ach ja, und ganz am Anfang, als Ryohei davon erzählt, dass Yusuke Sex mit seiner Freundin hätte, ist er ja offensichtlich nicht begeistert dabei. Aber ich frage mich - ist es nicht einfach möglich, interessiert zu sein, wie Sex bei anderen Geschlechtern als bei einem selbst abläuft? Man muss das ja nicht gleich selbst geil finden, aber wenn mir jemand davon erzählen würde, würde ich zumindest interessiert zuhören. Na ja, Jun scheint ja ziemlich apathisch zu sein - da fehlt ihm wohl schlicht diese Neugier. Aber das sind so diese kleinen Sachen, die es etwas schwerer machen, mich in ihn hineinzuversetzen...
Bei einem Punkt bin ich mir noch gar nicht sicher, ob das ein Lob oder eine Kritik wird - das wird sich im Laufe der Geschichte klären: Jun kritisiert die unrealistischen Aspekte an BL, befindet sich aber in einer Beziehung, die so gut wie genauso abläuft wie die Szene, die er kritisiert. Statt "Herr Lehrer!" halt "Daddy!", die Eifersucht im Onsen ist ähnlich und Juns Gesichtsausdrücke sind, sagen wir's mal offen, halt mehr Uke-ig als die meisten modernen Ukes. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Jun ist ein nicht-verlässlicher Erzähler und will die Parallelen zwischen seiner Beziehung und der BL-Szene nicht anerkennen, weil er dann zugeben müsste, dass seine Beziehung selbst in einer Welt mit komplett destigmatisierter Homosexualität mindestens als "seltsam" eingestuft werden würde. Oder das wurde erzählerisch nicht bedacht - z.B. wenn Akira Hirahara sichgedacht hat "Jaaaa, ich packe zwei meiner liebsten Aspekte da rein: 'Ne problematische Beziehung und ein wenig BL-Parodie" und sich halt keine Gedanken gemacht hat, wie das interagiert. Na ja, mal schauen.
Allgemein hab' ich halt immer das Problem, das die Seme-Uke-Beziehung unrealistisch und stereotyp genannt wird als ob Tops und Bottoms (Bzw. Tachis/Nekos) das überhaupt nie hätten. Da kommt man sich so auf ein Podest gesetzt vor, das die Fujoshis vielleicht erreichen können, wenn sie sich genug anstrengen, während in Wirklichkeit wir alle diese Gedankenfehler bzw. -kurzschlüsse haben. Passt ja zur zentralen Aussage von wegen Luftwiderstand und so - nur hätte ich da halt gerne noch mehr gesehen, dass man auch Vorurteile gegen die Gruppe haben kann, in der man sich selbst befindet.
Tja, dann komme ich mal zu diesem Mr. Fahrenheit... Den konnte ich nicht ausstehen! Jun heult sich aus und der gibt kryptische, pseudophilosophische Floskeln. Da erinnere ich mich doch glatt an mich, als ich 16 war und wissenschaftliche und ethische Begründungen für Homosexualität gesucht habe. In der Schule hatten wir nur Kant durchgenommen mit seinem kategorischen Imperativ - ich hab' also danach gesucht, ob Homosexualität den erfüllt oder nicht. Und da bin ich auf eine seitenlange Diskussion gestoßen, die ich mehrere Stunden verfolgt habe, bis sie zuende war. Meine Frage beantwortet bekommen, habe ich nicht, aber eins habe ich gelernt: Dass Menschen (Hashtag NotAllHumans) Philosophie nicht dazu nutzen, um die Welt und sich selbst zu hinterfragen, sondern um ihre eigenen Annahmen und Vorurteile post hoc zu rechtfertigen. Etwas zynisch, aber die Erkenntnis hilft in überraschend vielen Gebieten des Alltags, besonders im Internet.
Ähem, ja, aber deswegen kann ich diese Art Typen nicht wirklich leiden. In der Mitte vom Band hat er dann auch noch den gleichen Spruch gebracht wie der in Blue Flag, den ich auch da nicht mochte "Vielleicht war das eine Lüge. Vielleicht war alles, was ich dir erzählt habe, ein Lüge! Vielleicht bin ich gar nicht Manuel Neuer? \o.O/" "Booooah, jetzt halt doch einfach mal die Fresse!", dachte ich mir ganz ehrlich. Ich bin ja eigentlich selbst dem dekonstruktiven Postmodernismus sehr zugeneigt, aber das hat einen Platz und eine Zeit und die ist nicht, wenn man eine starke Stütze, Trost und Rat braucht. Es geht doch offensichtlich nicht um das, was Jun als "normal" bezeichnet, sondern um das, was "die Gesellschaft" als normal bezeichnet. Klar ist das fake und vage, aber die Konsequenzen dazu sind trotzdem echt und
darum sorgt sich Jun!
Da dachte ich mir aber auch - ist dieses Drama überhaupt gerechtfertigt? Der Manga kam 2019 raus und damals gab's natürlich schon PrEP und diverse Virostatika für HIV. Wenn der Roman nicht lange davor rausgekommen ist, sollte HIV eigentlich kein so großes Problem sein wie im Manga dargestellt bzw. wundert es mich, dass es niemand als Thema anklingen lässt - nur diese vage "Vorsorge"...
Na ja, obwohl ich noch nicht überzeugt ist, merkt man ja, dass das ein Manga ist, der zum Nachdenken und Schreiben anregt - dass das bei Band 2 und 3 auch der Fall sein wird, hoffe ich noch mehr als dass sie "gut" werden. Denn ob etwas interessant ist, finde ich oftmals noch sehr viel wichtiger als das, was oft Qualität genannt wird~.
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